#22.03.17 Ukrainekrieg, Zum Stand der russischen Invasion in der Ukraine. Politische und Militärstrategische Analyse
Der Militärexperte Gustav C. Gressel zum Krieg in der Ukraine: Sein Ausgang hängt auch davon ab, dass der Westen der Ukraine die nötigen Waffen liefert. Gleichzeitig muss die russische Ökonomie rasch lahmgelegt werden, damit Putin keine Reserven für den Krieg mobilisieren kann. Ein hartes Öl- und Gasembargo kann nach einem russischen Rückzug schrittweise gelockert werden. 1. Kurze Zusammenfassung
2. Russische Kriegsziele Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine zielt auf die Unterwerfung und Besetzung des gesamten ukrainischen Staatsgebietes. Seine primäre Absicht ist die Auslöschung der nationalen und kulturellen Identität der Ukraine. Dies schließt die physische Vernichtung ihrer politischen, intellektuellen, journalistischen, kulturellen und administrativen Eliten und ihrer Armee ein, soweit sie Widerstand leisten. Die anfangs offen propagierte „Demilitarisierung und Entnazifizierung“ der Ukraine war eine kaum verhüllte Ankündigung dieser Ziele. Zahlreiche Verhaftungen von ukrainischen Vertretern von Verwaltung und Zivilgesellschaft in Cherson, von denen niemand zurückgekommen oder wieder aufgetaucht ist, sowie die Werbung für die Ausstellung russischer Pässe in besetzten Gebieten ist ein klarer Hinweis auf die imperialen und kolonialen Ziele Russlands. Das langfristige Ziel des Kremls, die ukrainische geistige Elite flächendeckend zu vernichten, ist nicht ohne die Einrichtung von Konzentrationslagern zu erreichen. Es sollte insbesondere deutschen Entscheidungsträgern klar sein, was der ukrainischen Gesellschaft im Falle der Niederlage droht. Russland versucht durch blanken Terror die ukrainische Gesellschaft von der Unterstützung des Widerstandes abzubringen und zu einer Akzeptanz russischer Herrschaft zu zwingen. Dazu gehört das gezielte Bombardement ziviler Einrichtungen – Kindergärten, Schulen, Krankenhäuser, Pflegeheime – sowie Verhaftungen, Erschießungen und Erniedrigungen einschließlich Vergewaltigungen in den von russischen Truppen besetzten Gebieten. Der Angriff auf die besonders schwachen und ungeschützten Teile der Gesellschaft (Frauen, Kinder, Kranke, Alte) ist dabei gezielt gewählt, um zu demonstrieren, dass die ukrainische Armee ihre Bürger nicht schützen könne. Niemand soll im Irrglauben sein, dass es sich beim Bombardement von Geburtskliniken und Schulen um „Versehen“ handelt. Sollte Russland in diesem Krieg als militärischer Sieger hervorgehen, ist nicht nur in der Ukraine mit einer Terrorherrschaft zu rechnen, wie sie es seit dem Vormarsch der Wehrmacht in dieses Gebiet nicht mehr gegeben hat. Eine Flüchtlingswelle, die – wenn man die Zahlen aus dem Donbas auf die gesamte Ukraine hochrechnet – weit über die 10 Millionen gehen kann, ist dann noch das geringste Problem Europas. Russland wird nicht nur in der Ukraine eine gegen die NATO gerichtete Militärstruktur aufbauen. Putin schreibt auch jede Art des Widerstandes gegen ihn – seien es die Unabhängigkeitsbestrebungen in Tschetschenen oder Bürgerproteste in russischen Großstädten – den USA und der NATO in die Schuhe. Da man angesichts der russischen Brutalität mit weiterem bewaffneten Widerstand in der Ukraine rechnen muss, ist davon auszugehen, dass Russland den Westen dafür verantwortlich macht und ihn durch militärischen Druck, inklusiver nuklearer Drohungen, einzuschüchtern und abzuschrecken versucht, sich nicht „in die inneren Angelegenheiten Russlands“ einzumischen. Dass auch nach einem militärischen Sieg in der Ukraine noch erhebliche Teile der russischen Armee, der Nationalgarde und des FSB in der Ukraine stationiert bleiben müssten, um die eroberten Territorien zu beherrschen, ist sicher. Diese Teile werden systematisch in Kriegs- und Menschheitsverbrechen involviert. Damit werden sie wiederum an das Regime gebunden, da ihnen sonst der Prozess droht. Die russischen Truppen kehren verroht aus der Ukraine nach Russland zurück. Das wiederum zieht eine weitere Steigerung der inneren Repression in Russland und eine Militarisierung seiner Außenpolitik nach sich. Europa wird keinen „stabilen“ Kalten Krieg ernten, wie wir ihn aus den 1970er und 1980er Jahren in Erinnerung haben. Vielmehr wird er den instabilen 1940ern und 1950ern gleichen, als Stalin die neu eroberten Territorien in das sowjetische Imperium zwang, jeden Widerstand brach und mit der Berlin-Blockade die Grenzen seiner Macht austestete. Es ist keineswegs sicher, dass sich alle daraus erfolgenden Krisen friedlich lösen und entschärfen lassen. 3. Nukleare Eskalation? Moskaus Ankündigung, seine Nuklearstreitkräfte in erhöhte Einsatzbereitschaft zu versetzten, hat im Westen für einige Verunsicherung gesorgt. Dabei handelt es sich um nichts anderes als psychologische Kriegsführung. Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass die russischen Nuklearstreitkräfte Schritte unternehmen, die über den regulären Übungsbetrieb (in den letzten Wochen fanden die „Grom 2022“-Übungen der Nuklearstreitkräfte statt) hinausgehen. Sowohl ein Einsatz von Atomwaffen in der Ukraine als auch gegen den Westen sind derzeit höchst unwahrscheinlich. In der Ukraine kann das russische Militär durch thermobarische Waffen ähnliche Zerstörungs- und Einschüchterungswirkung erzielen, ohne sich das internationale Stigma eines Atomwaffeneinsatzes zuzuziehen. Aufgrund der westlichen Sanktionen ist Russland auf die neutrale Haltung von Staaten im Rest der Welt (Indien, Vietnam, Israel, etc.) angewiesen. Ein Atomwaffeneinsatz würde das ohne zusätzlichen militärischen Nutzen gefährden. Zudem entsteht das Problem der radioaktiven Rückwirkungen auf Russland. Auch der Einsatz nuklearer Waffen gegen die NATO ist unwahrscheinlich. Dieser hätte den sofortigen Eintritt des Bündnisses in den Krieg zu Folge. Das kann sich Russland militärisch nicht leisten, da seine Armee zurzeit in der Ukraine gebunden ist. Weite Teile Russlands, besondere der fernöstliche Militärbezirk sind militärisch entblößt. Es müsste, um eine Eroberung des eigenen Staatsgebietes auszuschließen sofort auf die Ebene des strategischen Nuklearkrieges eskalieren, was einem Selbstmord gleichkommt. Putin und der russische Militärgeheimdienst (GU, vormals GRU) fürchten die strategische und nukleare Überlegenheit der USA. Die Einsatzbereitschaft amerikanischer strategischer Atomwaffenträger ist in der Praxis um vieles höher als das russische. Zudem überschätzt man in Russland die Leistungsfähigkeit der amerikanischen Raketenabwehr. Der Krieg in der Ukraine hat eindrucksvoll unter Beweis gestellt, wie tief amerikanische Nachrichtendienste Einblick in die operative Planung Russlands haben. Russland könnte also die USA kaum mit einem nuklearen Angriff überraschen. In der russischen Denke könnten die USA bei Anzeichen russischer Vorbereitungen einen präventiven Atomschlag anordnen, der das russische Potential weitgehend ausschaltet. Das US-Raketenabwehrsystem würde dann einzelne russische Interkontinentalraketen abfangen. Dass dieses Szenario auf einer Überschätzung der amerikanischen Entschlossenheit und der amerikanischen technischen Fähigkeiten beruht, tut hier wenig zur Sache. Denn solche Szenarien sind mittlerweile zur Glaubenswelt im Kreml geworden, so wie man glaubt, Ukrainer und Russen sein ein Volk. Es ist daher sehr unwahrscheinlich, dass Russland hier zu nuklearen Mitteln greifen würde. Nach geltenden russischen Prinzipien der nuklearen Abschreckung und impliziten Erfahrungen aus russischen Manövern, Fachveröffentlichungen und Diskussionen ist die Option der nuklearen Eskalation für den Fall einer direkten militärischen Konfrontation Russlands mit der NATO vorbehalten. Waffenlieferungen, Sanktionen und andere Formen der Unterstützung der Ukraine sind weit unterhalb der nuklearen Reizschwelle. Nur wenn die NATO mit geschlossenen militärischen Formationen – etwa mehreren Panzerdivisionen – in den Krieg eingreifen würde und sich durch die daraus resultierende militärische Situation eine erste Gefahr für Kern-Russland entwickeln würde, wäre der Einsatz dieser Waffen eine realistische Option. Indes hat Russland erkannt, das die Furcht vor dem Atomkrieg das beste Mittel ist, die westliche Öffentlichkeit von einer Unterstützung der Ukraine abzuhalten, nachdem alle anderen Mittel der Informationskriegsführung und Meinungsbeinflussung versagt haben. 30 Jahre nach Ende des Kalten Krieges herrscht auch in den Reihen der politischen Entscheidungsträger im Westen blanke Unwissenheit über alle Fragen nuklearer Abschreckung vor. In diese Lücke stoßen die russischen Drohungen und Verunsicherungen – in diesem Stadium rein als psychologisches Druckmittel, nicht in der Substanz. Der Einzige Einsatz von Massenvernichtungswaffen, der derzeit realistisch erscheint, wäre der Einsatz primitiver chemischer Kampfstoffe (Chlorgas etc.) oder radioaktiver Substanzen (radiologische Waffen), um der Ukraine einen Unfall im Bereich der Lagerung solcher Substanzen oder einen Anschlag in die Schuhe zu schieben. Ziel wäre die Diskreditierung der ukrainischen Führung in der eigenen Bevölkerung und im Westen. 4. Stand der Offensive Russland begann den Krieg als „spezielle militärische Operation“ mit dem Ziel, schnell die Hauptstadt Kyiv und andere wichtige Städte einzunehmen und so eine Kapitulation der Ukraine zu erzwingen. Diese Phase des Krieges ist in den ersten Tagen des Krieges kläglich gescheitert. Man unterschätze den ukrainischen Widerstand komplett. Die Folgen dieser Fehlentscheidung wirken sich bis heute militärisch aus. Zu Beginn des Krieges setzte Russland etwa 120 Bataillonskampfgruppen (engl. Battalion Tactical Groups, BTG) gegen die Ukraine ein. Eine BTG besteht jeweils aus dem ersten Bataillon eines Motschützen- oder Panzeregiments, verstärkt durch die erste Kompanie der Kampfunterstützungsbatallione der entsprechenden Brigade oder Division: einer Batterie Rohrartillerie, einer Batterie Raketenartillerie, einer Panzerabwehrkompanie, einer Batterie Fliegerabwehr, einer Pionierkompanie, sowie einigen Versorgungselementen (Transport, Betriebsmittel, Sanität). Der Grund für die Herauslösung der jeweils ersten (manchmal auch zweiten) Bataillone bzw. Kompanien ist, dass diese jeweils aus Berufs- und Vertragssoldaten bestehen. Manchmal werden zwar Wehrpflichtige nach Abschluss ihres Wehrdienstes recht unsanft „überredet“ einen einjährigen Vertrag zu unterschreiben, aber auf dem Papier sind es Freiwillige, die dann in den Krieg geschickt werden können. Dieses System erlaubt es Russland, rasch Kräfte zu formieren und zu verlegen. Die innenpolitisch umstrittene Verwendung von Grundwehrpflichtigen und Reservisten wird vermieden. Das System geht auf Erfahrungen des Tschetschenienkrieges zurück, allerdings gab es erst nach dem Georgienkrieg den Willen und die finanziellen Ressourcen, um es zu implementieren. Aber da liegt auch das Problem: es eignet sich für „show of force“ Operationen oder zur Generierung von Truppen für koloniale Konflikte wie Tschetschenien oder Georgien. Für den großen Krieg hoher Intensität wie in der Ukraine ist das System wenig geeignet. Von den jeweiligen Armeekommanden direkt geleitete Operative Manövergruppen bestehend aus 12 bis zu 20 BTGs sind zu umständlich in der taktischen Führung und Koordination. Die Armeekommandanten müssen sich um zu viele Einheiten kümmern, spielen quasi gleichzeitig Corps- und Brigadekommando auf einmal. Wichtige Lageinformationen oder Befehle werden übersehen oder zu spät gegeben. Schlechte Funkgeräte verstärken das Problem. Dann müssen kommandierende Generäle nach vorne, um sich selbst ein Bild der Lage zu machen, sie werden damit ein leichtes Ziel für Attacken des Gegners. Die Moral der Truppe und das Vertrauen in die Führung hat unter den falschen Kriegsvorwänden (vielen Soldaten wurde nicht gesagt, dass sie in einen echten Krieg marschieren) stark gelitten und wurde durch das organisatorische Chaos weiter verstärkt. Die Koordinationsschwierigkeiten sind umso größer bei den Kampfunterstützungstruppen, insbesondere der Fliegerabwehr. Vier zusammengestoppelte Batterien sind noch lange kein Bataillon. Hier wirkt sich das Fehlen der übergeordneten Bataillons- und Regimentskommandos besonders schwer aus, da diese die Feuersektoren mit den Luftstreitkräften koordinieren. Ohne diese Kommandostrukturen wissen die russischen Fliegerabwehrkräfte nicht, welche Flugbewegungen eigene sind, und verhalten sich dementsprechend zurückhaltend (und werden dann von ukrainischen Bayraktar Drohnen angegriffen). Die russische Luftwaffe ihrerseits kann kaum effektive Luftnahunterstützung fliegen aus Furcht, von eigenen Fliegerabwehrsystemen abgeschossen zu werden. Da Russland und die Ukraine dieselben Systeme mittlerer Reichweite einsetzten, muss sie auch bei Angriffen auf Radar- und Feuerleitstellungen Vorsicht walten lassen, um nicht die eigene Fliegerabwehr auszuschalten. All diese Schwächen kommen den ukrainischen Verteidigern zugute, die sich taktisch sehr geschickt auf ihren Gegner einstellen. Zu guter Letzt sei auch erwähnt, dass Einrichtungen der Feldinstandsetzung (Werkstätten, etc.) Einrichtungen der Brigade und Divisionsebene sind, die nicht mit ins Feld geführt wurden, da in ihnen Wehrpflichtige dienen. Da sich die russischen Kräfte zum Teil seit Oktober schon in Übungen befanden, und routinemäßige Instandsetzungsarbeiten nicht erledigt wurden, ist der Zustand des Materials (Räder, Ketten, Schmiermittel in Motoren und Getrieben, etc.) dementsprechend schlecht und führt zu hohen technischen Ausfällen. Hinzu kommt, dass wohl viele zum Vertragsabschluss gezwungene „Freiwillige“ nach Überschreiten der Grenze desertiert sind. Die russische Armee verfügt nach eigenen Angaben über 168 BTGs, etwa 110 bis 120 davon wurden am 24. Februar gegen die Ukraine eingesetzt. Der erste Ansatz erfolgte mit mindestens 34 BTG auf Kyjiw, 24 BTG auf Charkiw, 13 BTG zusätzliche BTG zu den Kräften der DNR und LNR aus dem Donbas, und mindestens 20 BTG aus der Krim auf Cherson und Richtung Mariupol. Etwa 20 bis 30 BTG wurden als Reserve zurückbehalten und wurden erst in der zweiten Woche des Krieges eingesetzt. Es wurden auch mindestens 10 weitere BTG (vermutlich mehr) in die Ukraine verlegt bzw. befinden sich in Marsch. Selbst mit diesem massiven Kräfteeinsatz konnte die russische Armee keines ihrer anfänglich gesteckten Ziele erreichen. Sie verfügt über maximal 38 weitere BTG die dem Kampf zugeführt werden können, ohne auf Wehrpflichtige und Reservisten zurückgreifen zu müssen. Bedenkt man, dass durch Kampfhandlungen, Desertation, und Kapitulation Kräfte von etwa 30 BTG ausgefallen sind, ist das nicht viel. Es reicht zur Fortsetzung des Krieges, aber nicht um unmittelbar eine strategische Entscheidung zu erzwingen. 5. Neue Kräfte? Für Moskau ist es daher besonders wichtig, neue Kräfte aufzubieten. Das Zuführen von Wagner-Söldnern (etwa 4000 an der Zahl) und angeworbenen Truppen aus dem Nahen Osten und Afrika kann die Lücken im russischen Kräftedispositiv nicht schließen. Dafür sind diese Kräfte entweder zu wenig (Wagner) oder in Kampfkraft, Ausbildung und Moral der Aufgabe nicht gewachsen (Kanonenfutter aus Syrien). Teilmobilmachungen in ländlichen Räumen (Dagestan) dient der Herauslösung weiterer Berufts- und Vertragssoldaten aus dem Ausbildungs- und Friedensbetrieb, um Verluste ausgleichen zu können. Aber auch dem sind Grenzen gesetzt. Die Kriegspropaganda und das Schüren von Begeisterung für den Krieg laufen auf Hochtouren. Das Regime ist, was den Einsatz von Grundwehrdienern angeht, noch vorsichtig, da eine Konfrontation breiter gesellschaftlicher Schichten mit der Realität des Krieges in der Ukraine erhebliche innenpolitische Risiken birgt. Inwieweit die gegenwärtige Propaganda hier für die entsprechende Geschlossenheit sorgen kann, ist nicht abzusehen. Eine volle Mobilmachung Russlands würde den Krieg zuungunsten der Ukraine entscheiden, aber womöglich auf Kosten der Regimestabilität in Moskau. Diese Fragen wägt Putin und die Regime-Entourage gerade ab, Ausgang ungewiss. Entscheidend für die Frage ob Russland im gegenwärtigen Rahmen den Krieg wird fortsetzen können, wird der 1. April 2022 sein. An diesem Einrückungstermin rücken nicht nur hunderttausende Wehrpflichtige in die Armee ein, sondern scheiden auch ebenso viele wieder aus (im preußischen Militärjargon „ausmustern“ genannt). Diese werden für Vertragsverhältnisse in der Armee angeworben, um sie in den Krieg schicken zu können. Insbesondere freilich die Wehrpflichtigen jener kritischen Elemente, die den BTGs bisher fehlen). Dann könnte man die fehlenden Werkstätten und andere Ausrüstung samt der schon fertig ausgebildeten Soldaten in die Ukraine verlegen. Nach diesem Datum ist also mit einer qualitativen und quantitativen Verbesserung der russischen Lage zu rechnen. Ziel des Westens muss es daher sein, in der noch verbliebenen Zeit die ukrainische Armee soweit zu unterstützen, dass die diesem neuen Angriff standhalten kann und durch schnelle, harte und breite Sanktionen die russische Wirtschaft vor diesem Datum lahmzulegen. 6. Ukrainische Verteidigung Die ukrainischen Verteidiger haben sich nicht nur als äußerst tapfer, sondern auch als taktisch und operativ versiert und flexibel verteidigend erwiesen. Dass die an Tag 15 noch einsatzbereite Kampfflugzeuge und funktionsfähige Fliegerabwehrsysteme mittlerer Reichweite verfügen, übertrifft die positivsten Erwartungen. Aber auch die Ukrainische Armee hat Verluste hinnehmen müssen und der Verbrauch von Munition wird mit zunehmender Dauer des Krieges zum Problem. Die ukrainische Armee verfügte vor dem Krieg über etwa 70 Bataillone an Kampftruppen (Panzerkräfte, Mechanisierte Infanterie, Infanterie). Diese bilden nach wie vor den harten Kern der Verteidigung an allen Frontabschnitten. Hinzu kamen etwa 50.000 Mann einberufene Reservisten und 100.000 Mann Territorialverteidigung, hinzu Freiwillige aus dem In- und Ausland. Die ukrainischen Kräfte konnten also in den letzten Tagen stark anwachsen, allerdings bestehen die frischen Kräfte aus leichter Infanterie: sie kann den mechanisierten Kräfte Russlands nur standhalten, wenn sie verteidigungsgünstiges Gelände nützen kann – in diesem Fall Städte. Außerhalb der Städte, insbesondere im flachen Agrarland in der Südukraine, können sie das nicht. Auch haben die ukrainischen Verteidiger das Problem, dass es mehr Raum als Kräfte gibt, um diesen abzudecken. Russische Truppen finden immer wieder Lücken zwischen den ukrainischen Verteidigern, um an diesen vorbei in die Tiefe zu stoßen. Dann müssen die Ukrainer diesen den Nachschub abscheiden, und die eingedrungenen Spitzen mit mechanisierten Reserven vernichten. Dies gelang insbesondere um Kyjiw und Tschernihiw recht gut. Allerdings kostet es auch der Ukraine Kräfte und Material, insbesondere das ihrer mechanisierten Reserven. So viele Panzerabwehrwaffen die Ukraine auch bekommen mag, allein aufgrund des Geländes ist eine rein infanteristische Verteidigung auf Dauer nicht durchhaltbar. Um die ukrainische Verteidigungsfähigkeit zu erhalten ist ein Nachschub auch mit schwerem Gerät – Panzer, Artillerie, Schützenpanzer und der dazugehörigen Munition dringend notwendig. Selbiges gilt für die Luftverteidigung. In der vergangenen Woche konnte die Ukraine der russischen Luftwaffe die höchsten Verluste seit dem zweiten Weltkrieg zufügen. Allerdings halfen das schlechte Wetter und die dicke Wolkendecke. Um Ziele identifizieren und angreifen zu können, mussten die russischen Piloten die Wolkendecke unterfliegen und kamen so in den Bereich der ukrainischen Luftabwehr, der es an schultergestützten Raketen (Stinger, Igla, und polnische Grom) nicht mangelt. Nun macht sich aber ein Hochdruckgebiet über der Ukraine breit, und russische Flugzeuge können größere Höhen für ihre Angriffe nutzen. Die Ukraine verfügt noch über einsatzfähige Fliegerabwehrraketensysteme mittlerer und großer Reichweite, insbesondere Buk-M1 und S‑300. Auch fliegt die Luftwaffe Abfangeinsätze. Solange diese Waffensysteme eine Bedrohung auch für hochfliegende russische Flugzeuge darstellen, wird die russische Luftwaffe ihrerseits Systeme zurückhalten, die sie keinem großen Risiko aussetzen will. Das betrifft insbesondere Bomber (Tu-22M3, Tu-95/142, Tu-160), die das Rückgrat der luftgestützen nuklearen Abschreckung stellen, andererseits bei wenig Risiko (wie etwa in Syrien) zum Flächenbombardement von Städten eingesetzt werden. Die weitere Verfügbarkeit solcher Kampfmittel hat einen entscheidenden, unmittelbaren Einfluss auf die humanitäre Lage. 7. Welche Militärhilfe Die ukrainische Armee braucht unsere unmittelbare Unterstützung: umfassend, unbürokratisch und sofort. Kurzfristig implementierbare Hilfe besteht vor allem im Überlassen von Ausrüstung, Gerät und Munition, die in der Ukraine keinerlei logistischen- oder Trainingsvorlauf benötigen. Von Kalaschnikow Sturmgewehren über RPG‑7 und Munition hinauf zu Kampfpanzern (T‑72, PT-91), Schützenpanzern (BMP‑1/2), Mannschaftstransportpanzer (MT-LB, BTR) findet sich vor allem in den Armeen unserer östlichen Verbündeten vieles, was die Ukraine brauchen und verwenden kann. Auch MiG-29 Kampfflugzeuge gehören dazu, wie finnische Buk-M1 und slowakische und griechische S‑300 und polnische und griechische 9K33 Osa Fliegerabwehrraketen. Insbesondere Nachschub an gepanzerten Kampf- und Gefechtsfahrzeugen ist für den Erhalt mechanisierter Reserven wichtig. Fliegerabwehrlenkwaffen halten die Bedrohung russischer Bomber durch diese aufrecht. Hier sind in erster Linie die östlichen Verbündeten Deutschlands gefragt, allerdings muss bei vielen Geräten aus NVA Bestand auch eine deutsche Exportgenehmigung eingeholt werden. Deutschland sollte den NATO-Partnern, die ihre eigenen Armeen und Munitionsbestände durch diese Hilfslieferungen entblößen, direkt helfen, sowohl in der Nachbeschaffung, als auch durch Stationierung von Truppen zum Erhalt der örtlichen Sicherheit. Weitere unmittelbar nützliche Ausrüstungsgegenstände sind Winteruniformen, Schutzwesten, Helme, Nachtsichtgeräte, Wärmebildgeräte, verschlüsselte Funkgeräte, schwere Scharfschützengewehre, Panzerabwehrwaffen aller Art, Fliegerfäußte (MANPADS), Kleindrohnen mit Wärmebildgeräten, Dronenstörer, Panzerminen, Pionier- und Baugerät. Einen nicht zu unterschätzenden Wert haben die Weitergabe von Aufklärungsergebnissen, insbesondere nachrichtendienstliche Erkenntnisse, Lagebildinformationen aus Satellitenbildern, elektronischer Überwachung der russischen Kommunikation und Radarsignale, der Luftraumdaten insbesondere zu Frühwarnung vor Luftangriffen. Eine dementsprechende Verstärkung der Aufklärungstätigkeiten der NATO durch die Bundeswehr und den BND ist mit aller Kraft zu forcieren. Die Lieferung bewaffneter Drohnen und Munition für diese, sowie selbstzielsuchende Munition (loitering munition) wäre ein wirkungsvolles Mittel, die Reichweite der ukrainischen Artillerie zu steigern und der Ukraine zu ermöglichen, hochwertige Ziele im Rücken des Feindes (Reserven, Gefechtsstände, Nachschub, Belagerungs- und Raketenartillerie) anzugreifen. Allerdings hat Deutschland die vergangenen 20 Jahre mit fruchtlosen Debatten um ein Verbot solcher Waffen vergeudet. Solch ein Verbot war von Anfang an unrealistisch und fußte einzig und allein auf Wunschdenken, dass durch „Friedensforscher“, die Abrüstungslobby und Politiker ohne militärische Kenntnisse perpetuiert wurde. Deutschland hat hier nichts Verwertbares anzubieten. Man könnte allenfalls Finanzmittel für ihre Beschaffung aus anderen Quellen bereitstellen. Schwedische Strix Granatwerfermunition zur Panzerabwehr wäre eine wirkungsvolle Unterstützung für die ukrainische Infanterie im Ortskampf. Allerdings verfügen nur Schweden und die Schweiz über diese Munition. Mittelfristig ist es damit aber nicht getan. Der Krieg in der Ukraine wird deutlich länger dauern als ursprünglich angenommen, und eine militärische Besetzung der westlichsten Oblaste durch das russische Militär scheint derzeit kaum möglich. Es bietet sich also sowohl die Zeit, als auch die Möglichkeit, die Ukraine in technisch ausgereiftere Waffensysteme einzuschulen und diese auszuliefern. In der Westukraine könnte man dafür auch die entsprechende Infrastruktur zur Wartung aufbauen. Würde man hierzu einmal die deutsche Bürokratie über Bord kippen und bedenken, dass die Ukrainer hierfür mehr als 40 Stunden die Woche arbeiten, ginge das je nach System auch schneller als in Friedenszeiten. Systeme mittlerer Komplexität, die es in europäischen Lagern gibt, würden etwa diverse Varianten des Kampfpanzers Leopard 1 und 2, der Panzerhaubitze M‑109, diverse Varianten des M‑113 und ähnlicher Fahrzeuge und anderer Mannschaftstransportpanzer umfassen. So in Deutschland noch vorhanden wären LARS Raketenartilleriesysteme und Skorpion Minenwerfer, beide zum Verschuss der der AT‑2 Panzermine geeignet, in Erwägung zu ziehen. Der Bereich Fliegerabwehr ist hier der problematischste, da moderne westliche Systeme erhebliche Komplexität aufweisen, und sich zum großen Teil nur im Erprobung- und Vorserienstadium befinden. In Washington macht man sich aber schon Gedanken darüber, was man liefern könnte, dementsprechend wären Absprachen mit anderen lieferfähigen Verbündeten zu treffen. Dementsprechende Vorbereitungen sind aber jetzt in die Wege zu leiten, damit sie in einigen Monaten wirksam werden können. Die in der Öffentlichkeit oft diskutierten Systeme Patriot eignen sich für die Ukraine wenig. Nicht nur ist Patriot in diversen Varianten überkomplex, und nur mit erheblichem logistischem Aufwand und langwieriger Ausbildung (insbesondere bei älteren Geräten) zu betreiben, auch ist das System zu statisch für die bewegliche Kampfführung der Ukrainer (die ja ständig russischen Raketenangriffen ausweichen müssen). Das französische VL-MICA und SAMP/T (Aster) System ist deutlich einfacher zu bedienen und mobiler, bräuchte aber unmittelbare logistische Anschlussunterstützung durch Frankreich in Polen. Diesbezügliche Entscheidungen wären aber jetzt tu treffen, da solche Lieferungen in jedem Fall erheblichen Vorlauf an Ausbildung und logistischer Vorbereitung brauchen. 8. NATO Force Posture Der Krieg in der Ukraine, der militärische Aufmarsch in Belarus und der Krim stellen auch eine direkte Bedrohung für die Sicherheit der östlichen Nachbarstaaten Deutschlands dar. Von Russland gibt es bereits Drohungen, auch Flüchtende, Hilfslieferungen oder Waffentransporte anzugreifen, und nicht nur im Grenzgebiet sondern auch auf NATO-Territorium. Hätte die NATO bereits im Oktober angefangen, den russischen Truppenaufmarsch durch entsprechende eigene Verlegungen zu spiegeln, hätte man die russische Furcht vor einem Eingreifen des Westens als Druckmittel nutzen und so die russische operative Planung verkomplizieren, wenn nicht sogar vor einem Angriff abschrecken können. Aber diese Chance wurde verpasst. Nun gilt es der Situation hinterherzulaufen und einen glaubwürdigen, abschreckungsfähigen Aufbau eigener Kräfte an der Ostflanke einzuleiten. Es darf keine Grauzone entstehen, in der Russland eine Provokation lancieren könnte, ohne dass die NATO reagieren könnte. Auch ist die Sicherheit jener Staaten, die Waffen an die Ukraine liefern (siehe oben) und sich dadurch entblößen, durch direkte Truppenstationierungen auszugleichen. Das muss über das gegenwärtige Maß symbolischer Stationierungen hinausgehen. Die gesamte NRF muss jetzt vorwärts stationiert werden. Eine einheitliche Führung unter NATO-Kommandostruktur für den Kriegsschauplatz Nordost und Südost muss die Führung der alliierten Kräfte im Raum übernehmen. Vor allem im Bereich Flieger und Raketenabwehr müssen zusätzliche Verstärkungen einbezogen werden. Das deutsche Verteidigungsministerium hat lange versprochen, im Krisenfall bis zu divisionsstarke Kräfte bereitstellen zu können. Die Krise ist schon lange da. Frankreich hat gestern eine Staffel Kampfflugzeuge nach Polen verlegt. Die Luftwaffe der Bundeswehr kann das Gleiche tun, ein Geschwader wäre freilich besser. Erst wenn die Grenze der NATO ein absolutes und glaubwürdiges Tabu für russische Angriffe ist (das kann man nicht mit Worten, sondern nur mit militärischen Taten unterstreichen), kann man die Tabuzone auf Grenzübergänge und Flüchtlingskolonnen jenseits der Grenze ausdehnen. Von da an kann man situativ, Schritt für Schritt, durch Ausrüstung und nachrichtendienstliche Unterstützung der Ukrainer die Handlungsfreiheit der russischen Luftwaffe einschränken. Über eine Flugverbotszone zum gegenwärtigen Stand zu diskutieren ist sinnlos. Es fehlen die Kräfte, um diese überhaupt durchzusetzen. Auch politisch ist nicht zu erwarten, dass ein solcher Beschluss in der NATO einfach durchgeht. Selbst wenn, hätte Russland genügend Möglichkeiten, Flugzeuge der NATO vom Boden oder aus der Luft anzugreifen und somit die NATO wieder vor die Wahl zu stellen, entweder militärisch zu eskalieren oder klein beizugeben. Aus den oben genannten Gründen – man schlittert nicht so schnell in einen Atomkrieg – würde Russland eher konventionell eskalieren. Wenn man aber einmal ein militärisch ernst zu nehmendes Streitkräftedispositv an der Ostflanke aufgestellt hätte, könnte man zumindest den öffentlichen Druck für eine Flugverbotszone bzw. ein Eingreifen gegen Russland diplomatisch ins Felde führen, um die russische Führung zu verunsichern und zu ernsthaften Verhandlungen zu bringen. Das Vorhandensein starker Kräfte allein erweitert bereits den eigenen diplomatischen Handlungsspielraum. 9. Sanktionen Das russische Kalkül folgt gegenwärtig einzig und allein der militärischen Logik. Wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen müssen daher zeitlich und in der Intensität an die militärische Zeitleiste angepasst werden. Das Postulat, Sanktionen müssten langfristig angelegt sein und nachhaltige Wirkung entfalten ist fehl am Platz. Es ist Putin egal, was in fünf Jahren mit der russischen Wirtschaft passiert, sein Entscheidungshorizont geht kaum über den ersten April hinaus. Der Hauptzweck von Sanktionen muss in dieser Situation sein, die russische Wirtschaft so hart, so schnell und so breit wie möglich zum Erliegen zu bringen. Ein vor dem ersten April einsetzender Zusammenbruch der russischen Wirtschaft und der Staatsfinanzen würde die oben beschriebene Ausweitung des Krieges durch Russland schwer bis unmöglich machen. Die innenpolitischen Folgen wären zu hoch. Diesem Ziel sind alle anderen Maßnahmen unterzuordnen. Dafür müssen Sanktionen nicht langfristig durchhaltbar sein. Ein komplettes Öl und Gasembargo gegen Russland könnte „für die Dauer der Kampfhandlungen“ verhängt werden. Öl und Gasexporte sind die wichtigsten Einnahmen und Devisenquellen des russischen Staates. Russland kann seine Energieexporte nicht so schnell diversifizieren. Gemeinsame Gas- und Öleinkäufe durch die Kommission (ähnliche Instrumente gibt es bei Kernbrennstäben) würden die Gasbeschaffung für kaufkraftschwächere Staaten erschwinglich machen. Ale bisherigen Sanktionen und Einschränkungen müssen auf den gesamten Unionsstaat ausgedehnt werden (Russland und Belarus) um ein Umgehen der Sanktionen über die belarussische Kolonie zu verhindern. Eine Ausweitung und Vertiefung der Bankensanktionen, etwa das Verbot in Euro zu handeln und wechselseitig Dependenzen zu unterhalten, muss rasch ergriffen werden. Ebenso sollten exterritoriale Sanktionen, insbesondere Druck auf chinesische und indische Banken, sich vom russischen Markt zurückzuziehen, ausgeweitet werden. Wenn wir
heute nicht alles tun, um den Abwehrkampf der Ukraine zu unterstützen,
werden wir morgen für uns kämpfen müssen. (Quelle>>>)
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